Reitkunst und Coaching | Pferdeosteopathie

Kopf runter – Rücken rauf !?!

Diese Behauptung begegnet uns überall in Magazinen, Foren, Blogs und überall dort, wo Leute ihre Meinung zum Thema Pferd verbreiten wollen. Und genau das behaupten auch die meisten Reitschüler, wenn sie zum ersten Mal bei mir sind. Ich frage dann zurück: Ist das wirklich so? Und weil eben dieser anatomische Zusammenhang eine zentrale Rolle in der Reitausbildung spielt, möchte ich in diesem Artikel dieser Frage nachgehen – nicht wissenschaftlich, sondern einfach und verständlich.

Kopf runter scheint für die meisten Reiter das wichtigste Kriterium für ein „ordentlich gerittenes“ Pferd zu sein. Schon bevor das Pferd losgeht, wird ihm zu diesem Zweck dessen Kopf heruntergeriegelt. Pferde, die das Prozedere kennen, halten oft schon von alleine den Kopf hin und ergeben sich in ihr Schicksal. Das hat natürlich rein gar nichts mit einem ordentlich gerittenen Pferd zu tun – aber da sind wir wieder bei unseren Sehgewohnheiten und den shifting baselines: So muss das eben aussehen! Sonst würden andere womöglich denken, man könne nicht reiten. Und außerdem kommt ja dann der Rücken hoch.

Bei der Bodenarbeit sieht es ähnlich aus: da wird das Pferd ausgebunden longiert, um ihm „den Weg in die Tiefe zu zeigen“ und natürlich, „damit es seinen Rücken aufwölbt“. Auch immer beliebt: ausgebunden über Stangen longieren nach Empfehlung des Tierarztes. Und der muss es schließlich wissen! Nein! Offensichtlich weiß er es oft nicht, denn sonst würde er solche Empfehlungen möglicherweise nicht aussprechen!

Bevor eine Erklärung folgt, möchte ich eins schon vorwegnehmen: hiermit ist es wie mit allem, was an Tipps kursiert! Ich hatte in der Diskussion über meinem Blog-Artikel über das Rückwärts Bergauf auch schon darauf hingewiesen, dass ich Trainingstipps nicht generell verteufeln will. Ich halte es aber für gefährlich zu denken, dass man immer alles auf alle Pferde anwenden kann! Was für das eine Pferd gut ist, kann gleichzeitig Gift für die Gesundheit eines anderen sein. Ich bitte Euch deshalb immer wieder darum, Euer Pferd genau anzuschauen und dann zu entscheiden! Wenn Ihr Euch nicht sicher seid mit einer Sache, lasst es lieber und informiert Euch gut und umfassend, was alles dranhängen könnte an einem Bewegungsablauf! Nichts kann isoliert betrachtet werden, alles hängt immer mit allem zusammen!

Um zu verdeutlichen, um was es geht, habe ich Bilder von einem Pferd im Stand gemacht.

Im Vergleich der beiden Bilder kann man am Hintergrund über dem Rücken erkennen, dass sich der Rücken minimal hebt, wenn das Pferd den Kopf senkt. Jetzt könnte man sagen: okay, also stimmt das doch! Ja, ABER: Jetzt gilt es, die Einflussfaktoren zu kennen und beurteilen zu können. Je nach Alter, Trainingszustand, Gebrauch usw. kann das Ausmaß des Anhebens stark variieren oder auch komplett entfallen. Hier sehen wir z.B. ein junges gesundes Pferd, das noch am Anfang seiner Ausbildung steht.

Als erstes hilft hier wie immer die Kenntnis der Anatomie weiter. Was ist das, was wir da sehen unter dem Fell? Keine Angst, es folgt kein Fach-Chinesisch!

Bild aus: http://www.hufschmied-hufbeschlag.de/Rueckenerkrankungen.htm

Das, was wir als Oberlinie bezeichnen, ist u.a. das Nackenband, das aus zwei Teilen besteht, nämlich dem Nackenstrang und der Nackenplatte. Der Nackenstrang setzt am Hinterhauptbein an und verläuft als das stärkste Band im Pferdekörper über die Nackenplatte weiter bis zum Kreuzbein. Ab dem 3. Brustwirbel heißt es dann Rückenband. Die Nackenplatte verbindet als paariges Konstrukt die Halswirbel C2 bis C7 mit dem Nackenband.

Und welche Aufgabe hat das Nackenband?

Da die Natur das Pferd nicht geschaffen hat, um Lasten zu tragen, liegt es nahe, dass es auch nicht dafür da ist, uns als Reiter zu tragen. Schauen wir uns Pferde in der Natur an, sehen wir, dass sie die meiste Zeit mit gesenktem Kopf stehen und grasen. Wenn sie den Kopf heben, bedeutet das nicht nur das Anheben des Kopfes mit ca. 30-35 kg. Durch den langen Hebel Hals bedeutet das einen großen Kraftaufwand. Zum Vergleich: Versucht mal, eine schwere Tasche mit ausgestrecktem Arm zu heben! Damit das Kopfheben und -tragen mühelos und schmerzfrei möglich ist, muss das Nackenband einwandfrei arbeiten können, denn genau das ist seine Aufgabe. Wenn das Pferd seinen Kopf senkt, entfernen sich die Dornfortsätze der Wirbelsäule durch den Zug des Bandes mitsamt seiner umgebenden Strukturen ein wenig voneinander und der Rücken hebt sich dadurch minimal.

Dieses vermeintliche Anheben wird leider oft mit dem „Aufwölben des Rückens“ gleichgesetzt und so kommt es, dass viele Reiter dem Irrglauben erliegen, nun könne das Pferd gesund und „über den Rücken“ laufen.

Aber was passiert jetzt in der Vorhand, wenn das Pferd den Kopf senkt?

Bild aus: Heuschmann, Die Anatomie und Biomechanik von Stellung und Biegung
Der Widerrist sinkt zwischen die Schulterblätter

Wie wir alle wissen, hat das Pferd keine Schlüsselbeine. Die Schultern sind durch Strukturen wie Muskeln, Sehnen, Bänder und Faszien mit dem Brustkorb verbunden.  Senkt das Pferd seinen Kopf, sinkt der Widerrist zwischen die Schulterblätter! Das kann man auf dem Bild rechts (gelber Kreis) gut beobachten. Der Großteil des Gewichts lastet auf der Vorhand. Dem ungerittenen Pferd kann’s egal sein. Ihm geht es nur darum, das Futter am Boden zu erreichen 😉 Aus der Körperhaltung wird es keinen Schaden nehmen. Solange – und das ist es eben! – solange der Rücken nicht belastet wird.

Was passiert, wenn dazu noch ein Gewicht (=Reiter) auf dem Pferd sitzt, und das – nebenbei bemerkt – tendenziell näher an der Vorhand als an der Hinterhand? Der Rücken des Pferdes sinkt allein durch das Gewicht um ein paar Zentimeter nach unten. Durch das Reitergewicht wird nun das Nacken-Rückenband in seiner Arbeit eingeschränkt, und weil ja immer alles mit allem zusammen hängt, wirkt sich die Einschränkung der Bewegung selbstverständlich auch schweifwärts aus. Das DAS auf Dauer ohne ein spezielles Training nicht gesund sein kann, sollte jetzt deutlich sein.

Es reicht also offensichtlich NICHT, dem Pferd den Kopf tief einzustellen, damit es den Rücken „aufwölbt“, und schon gar nicht, damit es „über den Rücken gehen“ kann. Reitlehrer, die diese Weisheit vertreten, haben leider nichts verstanden und plappern nur nach, was sie woanders gehört haben.

Für diejenigen, die Facebook mögen: Ein lehrreiches Video über das Nackenband (Achtung: es ist ein Film von einer Sektion!) findet Ihr hier.

Damit das Pferd tatsächlich gesund „über den Rücken“ gehen kann, ist also noch viel mehr nötig, nämlich ein individuell angepasstes Bauch-Beine-Po-Training 😉 Darauf möchte ich in diesem Artikel jedoch nicht mehr eingehen, weil das den Rahmen sprengen würde.

Zur Veranschaulichung möchte ich hier aber noch zwei Bilder von meinem Orfeo zeigen, als ich ihn bekam. So stand er da, völlig instabil und null ausgebildet. Um den Verkauf zu forcieren und um zu demonstrieren, wie brav er ist bekam ich Bilder, wie er „geritten“ wurde. Deutlich sieht man, wie er im Rücken „durchhängt“ und sich mit der gesamten Vorhand gegen die Reiterin stemmt. Mit seinem hohen Hals versucht er sich zu stabilisieren. Ein Dank an die Reiterin! Mit einem tief eingestellten Kopf hätte er nicht nur der Rücken nicht anheben können, sondern zusätzlich wäre er völlig aus der Balance gekommen und hätte jede Stabilität verloren.

Die Folgen aus so einem Erlebnis können dramatisch enden – für das Pferd und den Reiter. Noch lebensbedrohlicher wird die Situation für junge Pferde, die zum Zwecke der Ausbildung ausgebunden auf die Kreisbahn geschickt werden. Ihnen wird quasi Unmögliches abverlangt und dazu noch die Möglichkeit genommen, sich auszubalancieren…

Es hat seinen Grund, weshalb seit jeher die Pferde von hinten nach vorne ausgebildet werden und nicht andersherum. Das dauert eben solange es dauert. Aber nur wenn die Natur des Pferdes ausreichend Beachtung findet, kann es sich gesund entwickeln und mit uns uralt werden. Und genau das möchten wir doch!

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