Reitkunst und Coaching | Pferdeosteopathie

Propriozeptives Training und Sensorische Integration bei Pferden

Das klingt ja sehr nach Ergotherapie! Ergotherapie fürs Pferd? Kann das funktionieren? - Ein Erklärungsversuch

Monotone Bewegungen oder - noch schlimmer! - ein Nicht-Bewegen lassen nicht benötigtes Gewebe (Gehirn ist auch Gewebe!) regelrecht verkümmern. Es wird quasi abgeschaltet. Der Faszienkörper - unser größtes Organ - ist lernendes Gewebe. Er ist durchzogen von Nervenzellen  und lebt durch Bewegung und Reize. Er ist in der Lage, Großartiges für uns zu leisten. Genauso kann er aber auch seine Tätigkeit auf das Notwendigste beschränken. Dann gehen offensichtlich nicht geforderte Areale ins Standby.  Das äußert sich im Verkleben und Verfilzen des Gewebes, wodurch die Versorgung der Zellen und deren Funktion eingeschränkt und Bewegung erheblich erschwert wird. Die Auswirkung der Unterversorgung beschränkt sich dabei leider nicht auf das direkt betroffene Gewebe, sondern breitet sich im gesamten Körper aus. Mögliche Folgen sind z.B. Abgeschlagenheit, Wahrnehmungsstörungen, Depressionen bis hin zu Funktionsstörungen der Organe.

Das berühmteste Beispiel einer Isolation von Reizen der Außenwelt ist wahrscheinlich der Fall Kaspar Hauser, der der schwersten Form des Hospitalismus seinen Namen gab: das "Caspar Hauser Syndrom" bezeichnet ein Krankheitsbild, bei dem Kinder oder Tiere "über lange Zeit völligem Reizentzug und Misshandlungen ausgesetzt waren und somit in ihrer Entwicklung gestört wurden". (Quelle)

Heute weiß man, dass Kinder, die in einer reizarmen Umgebung aufwachsen, nachweislich ein niedrigeres Intelligenz-Potential haben. Dies kann in schweren Fällen tatsächlich als Straftat - nämlich Vernachlässigung - gewertet und mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft werden (§ 225 Strafgesetzbuch).

Eine Katastrophe, wenn es erst soweit gekommen ist!

Dies lässt sich 1:1 auf die Pferde übertragen: Am schönsten wäre es natürlich, wenn ein Pferd artgerecht im Herdenverband aufwachsen und sein weiteres Leben verbringen könnte - am besten auf Hangwiesen und/oder Paddocktrails mit unterschiedlichen Untergründen, damit sich Körper und Geist gleichermaßen vielseitig entwickeln können.

Leider sieht die Realität aber anders aus, denn die Haltung in Boxen scheint nach wie vor die bevorzugte Unterbringung zu sein. Und auch wenn es sich dabei teilweise um Paddockboxen handelt, ändert es nichts an der grundsätzlich reizarmen Umgebung. (Vgl.: Ergotherapie für Pferde, Thieme 2019, S. 134 und Mehr Körpergefühl für mein Pferd - Ergotherapie im Pferdetraining, KOSMOS 2020, S. 11.)

Es müssen nicht einmal böswillige Schwerstfälle sein, die das Pferd in seiner Entwicklung einschränken. Auch eine gutgemeinte Unterbringung kann dafür sorgen, dass das Pferd in seiner Eigenwahrnehmung gestört ist. Nehmen wir zum Beispiel ein Dressurpferd, das sein Leben lang auf geradegezogenen Sandplätzen seinen Dienst tut und ansonsten in einer Paddockbox wohnt. Wenn es raus darf, dann nur wenn es trocken ist und auch nur auf ein möglichst flaches Stück, "damit es sich nicht verletzt".  Was würde wohl passieren, wenn dieses Pferd ins unebene Gelände ginge? Genau, es würde mindestens stolpern. Vielleicht würde es sogar bei ganz alltäglichen Dingen scheuen, weil es diesen Reizen nie ausgesetzt wurde. Es besteht definitiv eine erhöhte Verletzungsgefahr!

Unsere Aufgabe als Pferdebesitzer ist es dafür zu sorgen, dass das Nervensystem arbeiten darf und gesundes Gewebe entsteht und erhalten bleibt, das physiologisch arbeiten kann. Geschädigtes Gewebe kann sich zwar (über Jahre!) umbauen, aber natürlich nur dort, wo es noch nicht zu degenerativen Schäden wie z.B. Arthrosen gekommen ist.

Was können wir also tun?

Es gibt viele Möglichkeiten, mit relativ geringem Aufwand mit dem Pferd an seiner Eigenwahrnehmung (= Propriozeption) zu arbeiten.

Zur Begriffserklärung: "Propriozeption (zu lateinisch proprius ‚eigen‘ und recipere ‚aufnehmen‘) bezeichnet die Wahrnehmung des eigenen Körpers nach dessen Lage im Raum, den Stellungen von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen zueinander sowie deren Veränderungen als Bewegungen mitsamt dem Empfinden für Schwere, Spannung, Kraft und Geschwindigkeit." (Quelle)

Wir müssen natürlich als erstes - wie immer - die Haltung unseres Pferdes überprüfen. Vielleicht besteht die Möglichkeit, an der Gestaltung der Unterkunft  zu arbeiten, denn dort verbringt das Pferd nun einmal seinen Tag.

Gelände-Spaziergänge über Stock und Stein stellen die einfachste und natürlichste Möglichkeit, Reize für Körper und Geist zu setzen. Tatsächlich gibt es aber auch Pferde, die absolut nicht ins Gelände gehen wollen (ich spreche da aus leidiger Erfahrung).

Eine sehr gute Möglichkeit bietet beispielsweise auch das Arbeiten mit instabilen Untergründen. Balance Pads & Co lassen sich im Stand und in der Bewegung einsetzen und sind leicht zu transportieren, so dass völlig wetterunabhängig fast überall trainiert werden kann.

Das propriozeptive System ist zuständig für die Tiefensensibilität. Es arbeitet aber nie isoliert, sondern interagiert mit anderen großen Körpersystemen, nämlich dem taktilen System, das für die Oberflächenwahrnehmung zuständig ist, und dem vestibulären System, das für das Gleichgewicht zuständig ist. Diese drei Systeme bezeichnen wir als die Basissinne, die gemeinsam für eine Wahrnehmungsverarbeitung sorgen. (Vgl. Ergotherapie für Pferde, Thieme 2019, S. 21 ff. und Mehr Körpergefühl für mein Pferd - Ergotherapie im Pferdetraining, KOSMOS 2020, S. 10 f sowie https://www.pfergo-akademie.com/pfergo-pferdeergotherapie/ )

Wahrnehmungsverarbeitung kann man sich in etwa so vorstellen: Das Nervensystem leitet die eingehenden Reize der weiter an das Gehirn, wo sie verarbeitet und gedeutet werden. Darauf folgt dann eine Reaktion - die wir wiederum beurteilen können.

Im Humanbereich sprechen wir in diesem Zusammenhang von der Sensorischen Integration (SI).  Dieser Begriff wurde von der amerikanischen Psychologin und Ergotherapeutin A. Jean Ayres (1920 - 1989) entwickelt. Darunter versteht man "das Zusammenwirken der eintreffenden Sinneseindrücke (über Augen, Ohren, Nase, Geschmacksnerven, Haut und Gleichgewichtsorgan) und deren Wahrnehmung und Deutung im zentralen Nervensystem sowie die Fähigkeit, Körpersprache oder Handeln seiner Mitmenschen zu deuten, diese nachvollziehen zu können und situationsangemessen zu reagieren." (Vgl.: Ergotherapie für Pferde, Thieme 2019, S. 21 ff. und Mehr Körpergefühl für mein Pferd - Ergotherapie im Pferdetraining, KOSMOS 2020, S. 10 f sowie https://www.pfergo-akademie.com/pfergo-pferdeergotherapie/ )

Bei einer Sensorischen Integrationsstörung werden die Eindrücke im Gehirn nicht richtig verarbeitet.(Quelle) Anders ausgedrückt wird durch die Sensorische Integration "erreicht, dass alle Abschnitte des Zentralnervensystems, die erforderlich sind, damit ein Mensch sich sinnvoll und emotional zufrieden mit seiner Umgebung auseinandersetzen kann, aufeinander abgestimmt werden." (Quelle)

Angewandt auf die Pferde können wir mit einer modifizierten SI-Therapie ebenfalls erreichen, dass die Pferde "sich sinnvoll und emotional zufrieden mit ihrer Umgebung auseinandersetzen". (Quelle)

Kommen wir zurück auf die Frage, ob Ergotherapie für Pferde funktionieren kann. Ergotherapie beschäftigt sich mit dem Handeln des Menschen und ist nicht zu 100% übertragbar auf das Pferd. Hier muss immer der Mensch in irgendeiner Form mitwirken und einbezogen werden. Aber wir können uns an die Ergotherapie anlehnen und einige Dinge adaptieren. Vor allem aber können wir die Basissinne des Pferdes schulen, damit das Pferd in seiner Wahrnehmungsverarbeitung davon profitieren kann. (Vgl.: Ergotherapie für Pferde, Thieme 2019, S. 16 und Mehr Körpergefühl für mein Pferd - Ergotherapie im Pferdetraining, KOSMOS 2020, S. 9 - insbesondere Textteil über modifizierte Klientenzentrierung, sowie https://www.pfergo-akademie.com/pfergo-pferdeergotherapie/

Hast du Fragen dazu? Möchtest du die Basissinne deines Pferdes schulen? Dann meld dich einfach bei mir per Mail oder Whatsapp!


Leseempfehlung zum Thema Ergotherapie fürs Pferd (unbezahlte Werbung):

  • Ergotherapie für Pferde (Thieme 2019) von Ruth Katzenberger-Schmelcher und Yvonne Katzenberger
  • Mehr Körpergefühl für mein Pferd - Ergotherapie im Pferdetraining (KOSMOS 2020) von Ruth Katzenberger-Schmelcher und Yvonne Katzenberger
  • https://www.pfergo-akademie.com/pfergo-pferdeergotherapie/

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